LG Osnabrück: Anspruch auf Schmerzensgeld der Mutter nach der Tötung ihres Kindes
Die 1. Zivilkammer des Landgerichts Osnabrück hat mit Urteil vom 5. Mai 2023 – 1 O 1857/21 – einer Mutter nach dem Tod ihres Kindes Schmerzensgeld in Höhe von 35.000 € zugesprochen. Ferner wurde festgestellt, dass der Beklagte für sämtliche zukünftige materielle und derzeit noch nicht vorhersehbare immaterielle Schäden einzustehen hat, die der Klägerin wegen des Todes ihres Sohnes entstehen.
Was war passiert?
Der Beklagte hatte auf die beiden Kinder der Klägerin aufgepasst. Er schüttelte eines der Kinder in der Nacht vom 8. auf den 9. August 2017 mehrfach. Das Kind verstarb ein paar Tage später im Krankenhaus an den Folgen eines Schütteltraumas mit erheblichen Gehirnverletzungen. Am 10. April 2018 – 6 Ks 15/17 – verurteilte die 6. Große Strafkammer – Schwurgericht – des Landgerichts Osnabrück den Beklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von 8 Jahren. Das Urteil des Schwurgerichts ist rechtskräftig.
Steht der Mutter ein Anspruch auf Schmerzensgeld zu?
Im Zivilverfahren war nunmehr zu klären, ob der Klägerin ein Anspruch auf Schmerzensgeld zusteht.
Zwar ist anerkannt, dass psychische Beeinträchtigungen eine Gesundheitsschädigung im Sinne der Regelung zu § 823 BGB darstellen können. Für einen Anspruch auf Schmerzensgeld bei der Tötung eines nahen Angehörigen hat der Bundesgerichtshof in der Vergangenheit (vgl. BGH, Urteil vom 21. Mai 2019 – VI ZR 299/17) jedoch gefordert, dass die psychische Beeinträchtigung pathologisch fassbar ist, mithin ein krankhafter Zustand erreicht ist. Ferner musste der krankhafte Zustand über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen, denen Betroffene beim Tod oder der schweren Verletzung eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind.
Die Beschränkung des Anspruches auf gesundheitliche Störungen, die ein außergewöhnliches Ausmaß aufweisen, wurde in der Literatur kritisiert. Mit der Entscheidung vom 6. Dezember 2022 – VI ZR 158/21 – hat der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung aufgegeben und für die Annahme einer gesundheitlichen Beeinträchtigung nicht mehr gefordert, dass diese ein außergewöhnliches Maß aufweisen muss.
Die 1. Zivilkammer des Landgerichts Osnabrück ist der geänderten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nunmehr mit ihrem Urteil vom 5. April 2023 gefolgt und hat der Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 25.000 € zugesprochen. Nach Überzeugung der Kammer besteht bei der Klägerin eine psychische Beeinträchtigung mit einem Krankheitswert. Die Kammer hat im Verfahren einen Sachverständigen hinzugezogen, der bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostizierte.
Der Klägerin wurde ferner ein Schmerzensgeld aus „übergegangenem“ Recht ihres Kindes in Höhe von 10.000 € zugesprochen. Hierzu hat die 1. Zivilkammer darauf abgestellt, dass das Kleinkind erst nach der Aufnahme ins Krankenhaus ins Koma gefallen sei, mithin die Tat selbst und deren Folgen zumindest für kurze Zeit noch erlebt habe. Dem Kind habe daher ein Schmerzensgeldanspruch zugestanden, so die 1. Zivilkammer des Landgerichts, der auf die Klägerin im Wege der gesetzlichen Erbfolge übergegangen sei.
Nach Ansicht der 1. Zivilkammer hat die Klägerin auch einen Anspruch auf Feststellung der Einstandspflicht für zukünftige Schäden. Nach den Feststellungen des Sachverständigen sei es wahrscheinlich, dass die gesundheitlichen Beeinträchtigungen auch blieben oder sich temporär verschlechtern könnten. In diesem Fall sei mit weiteren Schäden zu rechnen, für die der Beklagte einzustehen habe.
Die Kammer hatte sich auch mit der Frage auseinanderzusetzen, ob der Klägerin ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld nach § 844 Abs. 3 BGB zusteht. Der Bundesgerichtshof hat mit einer weiteren Entscheidung vom 6. Dezember 2022 – VI ZR 73/21 – ausgeführt, dass der Anspruch auf Hinterbliebenengeld eigenständig sei und dem Zweck diene, den Hinterbliebenen für dessen immaterielle Beeinträchtigung „unterhalb der Schwelle der Gesundheitsverletzung“ zu entschädigen. Die 1. Zivilkammer hat hierzu ausgeführt, dass dem Anspruch auf Hinterbliebenengeld eine Art Auffangwirkung zukomme, sofern die Gesundheitsbeeinträchtigung nicht pathologisch sei. Eine Addition der Ansprüche finde indes nicht statt. Da beide Ansprüche die gleiche Zielrichtung hätten, würde der Anspruch auf Hinterbliebenengeld in dem Anspruch auf Schmerzensgeld wegen einer psychischen Beeinträchtigung aufgehen.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Es kann mit dem Rechtsmittel der Berufung binnen eines Monats angefochten werden. Dann müsste das Oberlandesgericht Oldenburg über die Ansprüche der Klägerin entscheiden.
Quelle: Pressemitteilung des Landgerichts Osnabrück Nr. 20/23 vom 12. Mai 2023